Es gibt Dinge, die sind unbekannt, und es gibt Dinge, die sind bekannt, dazwischen gibt es Türen.
William Blake
Der Atlas ist der oberste Halswirbel. Mit dem Atlaswirbel als zentralem Element findet im oberen Kopfgelenk (OKG) der Großteil der Bewegung unseres Kopfes (Drehen / Nicken) statt.
Auf 2 kleinen Flächen, fingerkuppengroß, balanciert der oberste Halswirbel den 4-6 Kilogramm schweren Kopf und ermöglicht dabei eine beeindruckende Bewegungsfreiheit.
Das obere Kopfgelenk ist ein Wunderwerk der Natur. Ein so schweres Gewicht auf kleinen Wirbeln und der Wirbelsäule, elastisch wie ein junger Bambusstab, zu balancieren erfordert eine höchst sensible Steuerung und neurologische Koordination.
Die Stellung des Kopfes wird über die Informationen aus den sensiblen Rezeptoren und Muskelspindeln der Nackenmuskeln (Nackenrezeptorenfeld) ermittelt und über Schaltstellen im Gehirn mit der Kopf-, Augen- und Körpermotorik neurologisch verschaltet (die kurzen Nackenmuskeln besitzen 40 bis 100 mal mehr sensible Rezeptortypen und Muskelspindeln pro Kubikmillimeter als anderen Muskeln).
Diese Rezeptoren stellen somit ein Wahrnehmungsorgan dar und korrespondieren mit dem Gleichgewichtsorgan im Innenohr, der Augensteuerung, dem Kiefergelenk und haben direkte Verbindungen zu Hirnzentren, in denen die Raumorientierung gesteuert wird. Diese sensiblen Informationen aus dem Nackenrezeptorenfeld vermitteln die Stellung des Körpers zum Kopf und regulieren den Spannungszustand / Steuerung des Muskel-, Faszien- und Sehnensystems. Ebenso haben sie direkten Kontakt zu den Kernen der Hirnnerven, den vegetativen Regulationszentren und den Hirnzonen, in denen Schmerzsignale verarbeitet werden.
Die zentrale Verrechnung aller dieser Inputs und der „Kopf-zu-Körper-Stellung“ ist maßgeblich für die Orientierung im Raum, den aufrechten Gang und die koordinierte Bewegung des Körpers.
Das Genick ist ein Wunderwerk – aber auch die größte Schwachstelle im menschlichen Skelett. Durch den Geburtsvorgang, durch ein Schleudertrauma, aber auch durch Mikro-Traumata, die oft unbemerkt geschehen, kommt es zu biomechanischen Fehlstellungen und Blockaden des OKG. Solche Störungen bedingen eine Abweichung der lotrechten Haltung des Kopfes, eine Einschränkung der Bewegungsfähigkeit (sehr häufig in der Rotation zu einer Seite) und eine Tonusänderung der tiefen kurzen Nackenmuskulatur.
Jede Fehlstellung des Kopfes wird reflektorisch vom Körper mit gegenläufigen Achsveränderungen z. B. in Kiefer-, Schulter-, Becken- und Hüftstellung kompensiert. Eine Fehlstellung, Blockierung oder Funktionsstörung über Jahre verändert die komplette Körperstatik und kann Fehlbelastungen und Degeneration verschiedenster Gelenke verursachen.
Verspannungen der kurzen Nackenmuskeln bewirken neben den Stellreflexen eine Irritation und „Fehlmeldung“ zu den zentralen Schaltkreisen im Hirnstamm und führen zu mehr oder weniger ausgeprägten Störungen in der neuromotorischen und neurovegetativen Regulation.
Die neurophysiologische Schlüsselstellung des oberen Kopfgelenkes erklärt die Entstehung diverser Krankheitsbilder.
Die Symptombreite ist sehr vielseitig und bei jedem Menschen in Form und Ausprägung unterschiedlich.
Die häufigsten Beschwerden sind immer wiederkehrende Verspannungen, Spannungskopfschmerz, Migräne, Schmerzen im Rücken und Schmerzen in den Extremitäten. Der Nacken verspannt sich immer wieder, Schlaf- und Liegepositionen sind schwer zu finden.
Die permanente Anspannung und der „Alarmzustand“ der Nackenmuskeln kann zu psychomotorischen Begleitreaktionen bis hin zum Burnout führen. In manchen Fällen verursachen Störungen im OKG, Sehstörungen, Tinnitus, Gleichgewichtsirritationen, Schwindel bis hin zu Wahrnehmungsstörungen und Konzentrationsschwäche.
Der Mensch reagiert psychisch auf die biomechanische Irritation. (Fatalerweise wird im medizinischen Alltag immer wieder die psychische Reaktion und Instabilität als Ursache der diversen Symptome interpretiert und damit Ursache und Wirkung verwechselt).
In anderen Fällen stehen vegetative Fehlregulationen (Störungen des Vagus-Nervs) im Vordergrund der Leidensgeschichte. Bei manchen Kindern treten hypermotorische Reaktionen oder psychomotorische Entwicklungsstörungen auf.
Die vielfältigen, teils massiven und schwer einzuordnenden Beschwerden führen die Betroffenen oftmals auf eine Odyssee von Arzt zu Arzt, zum Osteopathen bis hin zum Psychotherapeuten. Eine Atlasfehlstellung wird im Unterbewusstsein als außerordentlich belastend erlebt.
Weil das OKG aufgrund seiner besonderen Anatomie und Empfindlichkeit eine überaus komplizierte Struktur darstellt, ist eine Mobilisierung anspruchsvoll und die Behandlung verlangt eine besonders sensible Fertigkeit und Technik. Die besondere Kunst in der Korrektur biomechanischer Störungen im OKG ist es, eine sanfte und nachhaltige Mobilisierung zu erreichen. Ziel der therapeutischen Intervention sollte es sein, die freie Beweglichkeit im OKG wieder herzustellen. Darüber hinaus ist die Einbeziehung und Korrektur weiterer Körperachsen (Kiefer/Becken/Hüfte) wichtig. Das Wissen, dass neben dem Atlas weitere Störbilder das OKG beeinträchtigen und ggf. mit behandelt werden müssen, ist für einen umfassenden Behandlungserfolg notwendig.